Als Lehrer in der "weltgrößten Stadt"

"Ein schwerer grauer Nebel lag wie ein Tuch über der Bergstadt am Zusammenfluss des Yangtze und des Chialiang Flusses und das Siegesdenkmal des Befreiungskrieges war versteckt im dicken Dunst." Dies ist der Eröffnungssatz des berühmten Revolutionsromans "Roter Fels" von Lo Kuang-pin und Yang Yi-yen. Mir fällt kein vergleichbarer Satz ein, welcher das Klima, die Lage und die historische Bedeutsamkeit dieses Ortes in ähnlicher Weise kondensiert. "Bergstadt" ist der auch heute noch gängige chinesische Name für meinen Dienstort als Landesprogrammlehrkraft, nämlich Chongqing. Seit 1949, dem Jahr in dem die Handlung des Romans spielt, ist sie zu einer der weltgrößten städtischen Agglomerationen herangewachsen. Die Chance ist dennoch hoch, dass Sie noch nie von dieser großen Unbekannten gehört haben.

Mein Weg nach China

2009, ich bin gerade Referendar und verwende meine ersten Dienstbezüge für eine Rucksackreise durch Asien, eine deren Stationen, mehr oder weniger aufgrund günstiger Flugverbindungen, Qingdao (eine ehemalige deutsche Kolonie im Osten Chinas) ist. Meine Vorstellungen über das Reich der Mitte entsprechen dem gängigen Klischee von grauer Tristesse, von freudlosen Menschen in Mao-Anzügen und Städten ohne Grünflächen. Diese werden aber sofort nach meiner Landung komplett revidiert: Das moderne China ist vibrierendes Leben, bunte Lichter, goldverzierte Säulenhallen, leckeres Essen auf der Straße, Restaurants voll schallendem Gelächter, herzliche Familienbeziehungen, schier unendliche wirtschaftliche Möglichkeiten und vor allem nette, hilfsbereite Menschen.

Kurzum, ich bin sofort Fan des modernen Reichs der Mitte. So ist es dann die perfekte Gelegenheit für mich, als ich nach dem Abschluss meines Referendariats auf der Website der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) eine Stelle als Ortslehrkraft (OLK) an einer internationalen Schule in Chengdu (Südwestchina) entdecke. Zu meinen bisherigen positiven Erfahrungen in China kommt dort der freundschaftliche Austausch mit Lehrerkollegen aus verschiedenen englischsprachigen Ländern hinzu, was einen Blick über den deutschen didaktischen Tellerrand einschließt. Auch wenn es mich nach drei Jahren wieder nach Deutschland in den Dienst als Realschullehrer zieht, lässt die Sehnsucht nach der Ferne nicht lange auf sich warten und ich bewerbe mich nur zu gern für das DSD-Sprachprogramm. Die großen international geprägten Städte an der Ostküste Chinas sind für mich weniger interessant und so fällt die Wahl auf Chongqing, eine Stadt in der man tagelang unterwegs sein kann, ohne einen anderen Ausländer zu treffen.

Aber wer wird eigentlich Auslandslehrkraft und wieso? Bei mir waren es eine gewissen Abenteuer- und Reisefreude (ich bin schließlich auch Erdkundelehrer), welche den Wunsch, sich außerhalb der gewohnten deutschen Umgebung zu entfalten, nährten. Bei meinem Bezug zu China spielten aber auch viele Zufälle eine Rolle: Hätte es vor meinem ersten Besuch in China andere Flugpläne gegeben, wäre ich womöglich bis heute nie in dieses ferne Land gereist. Hätte ich in Chengdu nicht meine Frau kennengelernt, wäre ich vielleicht jetzt nicht wieder in Chongqing. Jedenfalls ist es wenig zielführend, solche Fragestellungen im Konjunktiv zu diskutieren. Ich glaube, liebe Leserin, lieber Leser, auch Sie haben Ihren eigenen biographischen Bezug, um die am Anfang dieses Absatzes gestellte Frage für sich selbst hinreichend zu beantworten.

Chongqing, die große Unbekannte

Die etwas anmaßende Überschrift meines Berichtes muss ich an dieser Stelle geraderücken: Chongqing ist eine der vier regierungsunmittelbaren Städte in China und die gesamte Verwaltungsregion hat eine Einwohnerzahl von über 30 Millionen Menschen. Die eigentliche Kernstadt ist deutlich kleiner, es dauert aber dennoch mit der schnellen hochmodernen U-Bahn fast zwei Stunden, um von einen zum anderen Ende zu gelangen. Groß genug jedenfalls, um fast jeden Besucher aus Europa in Schwindel zu versetzen.

Die Stadt erschließt sich dem Neuankömmling nur langsam und widerwillig, die immer neuen Erlebnisse scheinen sich aufgrund der Größe und auch des stetigen Wandels nie zu erschöpfen. Geprägt ist die Bergstadt von enormer Landflucht, vor allem aus der Region des Dreischluchten-Staudamms. Immer neue Außenbezirke voller 20-stöckiger Wohnhäuser werden in schier endloser Folge gebaut. Das Wachstum scheint kein Ende zu nehmen und Chongqing mag vielleicht in der Zukunft den Titel "weltgrößte Stadt" mit voller Berechtigung tragen können.

Bilder aus Chongqing

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Das Lehrerkollegium Das Lehrerkollegium der Jihua Schule vor dem Hauptgebäude Quelle: Jihua Mittelschule Chongqing

Trotz der enormen Bevölkerungszahl, wirtschaftlichen Bedeutung und der Anbindung an die neue Seidenstraße ist Chongqing keine "Global City", der Einfluss von Ausländern ist auch zahlenmäßig gering. Besonders in den Außenbezirken herrschen dörfliche Umgangsformen vor, beispielsweise verkaufen Bauern aus der Umgebung ihre Produkte an jeder Ecke. In einem reizvollen Kontrast steht dies zum verdichteten Stadtkern, dessen Skyline wiederum keinen Vergleich auf der Welt scheuen muss und auf einer Halbinsel sehr szenisch gelegen ist, besonders bei Nacht.

Chongqing bietet ein reizvolles, exotisches Erlebnis; eine sehr traditionelle Kultur in der Szenerie einer technisch hochmodernen Stadt. Wer bereit ist, sich auf das unverwässerte Chinaerlebnis einzulassen, wird hier nicht enttäuscht, ein Leben in der "Expatblase" ist dagegen keine Option.

Was erwartet mich als Lehrer in China (oder im sonstigen Ausland)?

Natürlich ist jedes Gastland anders und auch innerhalb Chinas gibt es eine Vielfalt, die sich beinahe mit der in ganz Europa vergleichen lässt. Zudem ist ein Schwellenland wie China einem enormen Wandel unterworfen. Die Frage auch dieser Überschrift lässt sich also nicht in Form eines Reiseführers beantworten. Sehen Sie meine Erfahrungen nur als Anhaltspunkt, wovon ausgehend Sie hoffentlich Parallelen für Ihren eigenen zukünftigen Auslandsaufenthalt ziehen können. Die Ankunft im (beinahe) Unbekannten ist schließlich der zentralste Teil der Auslandserfahrung!

China, vor allem außerhalb Shanghais oder Beijings, ist ein Kulturschock für die meisten. Eine chinesische Großstadt ist zunächst architektonisch überwältigend. Englisch wird praktisch nicht gesprochen, sich selbst grundlegende Wendungen auf Chinesisch anzueignen ist ein langer, zäher Prozess. Fast jedes Gericht wird mit einer roten scharfen Soße gereicht. Selbst ein Badezimmer nach westlichen Standards zu finden ist oft eine Herausforderung.

Doch man muss nicht an den Rand der Verzweiflung gelangen, vorher kommen die enorme Gastfreundschaft und Offenheit der Chinesen, sowie deren unschlagbare Effizienz in vielen Dingen ins Spiel. Die chinesischen Deutschlehrkräfte vor Ort (welche manchmal die einzigen deutschsprachigen Personen an der Einsatzschule sind) bringen die neue Kollegin, den neuen Kollegen ins Hotel und es folgt eine Einladung zu einem sehr üppigen Essen. Exposé verschiedener möblierter Wohnungen liegen bereit. Man wird mit Handynummern von Bekannten überhäuft, die anbieten, sie bei allen möglichen Problemen anzurufen. Viele Dinge des täglichen Lebens lassen sich ganz modern per Handy erledigen. Die Fachberaterinnen und Fachberater der ZfA und die deutschen Kolleginnen und Kollegen im Land sind über soziale Netzwerke verbunden und bieten ebenfalls gerne ihre Hilfe an. Bei größeren Schwierigkeiten sind auch noch deutsche Auslandsvertretungen in der Nähe, welche durchaus auch für eher banalere Probleme ein offenes Ohr haben. Kurzum, man wird nicht alleine gelassen und kann hoffentlich bald die Erfahrung einer gänzlich fremden Kultur genießen.

Zum Wichtigsten, den Schülerinnen und Schülern: Sie sind anders als deren Altersgenossen in Deutschland. Es gibt sicherlich viele Nuancen, die man trefflich diskutieren kann, aber der Kernpunkt ist, dass die Gesellschaft in China sehr leistungsorientiert ist. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Volksrepublik enorme Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut gemacht und für chinesische Eltern steht außer Frage, dass Teilhabe am Aufstieg eng mit guten schulischen Leistungen verbunden ist. Während in Deutschland in den letzten Jahren mancher vielversprechende Ausbildungsplatz mangels Bewerber nicht besetzt werden konnte, ist die demographische Lage in China noch eine andere. Zusätzlich genießen in der chinesischen Tradition Lehrerinnen und Lehrer ein sehr hohes Ansehen. Als Folge sind Schüler in China außerordentlich strebsam und höflich, Disziplinprobleme sind die große Ausnahme. Zusätzlich sind Lehrkräfte aus dem Ausland keine Alltäglichkeit und die Begeisterung der Schüler ist oft groß, besonders wenn der Unterricht durch moderne Methoden aufgelockert wird. Es macht hier wirklich Freude, seinen Beruf ohne Störungen ausüben zu können. Die didaktische Herausforderung liegt darin, den Enthusiasmus der Schüler auch in aktives Sprechen umzusetzen. Wie erwähnt beherrschen Menschen auf der Straße in China oft keine Fremdsprache, trotz mehrerer Jahre Unterricht in der Schule. Hier liegt also die Kernaufgabe für Deutschlehrkräfte im Ausland!

Ich unterrichte etwa 25 Stunden pro Woche in verschiedenen Klassenstufen DaF und führe Beratungen und Besprechungen mit meinen chinesischen Lehrerkollegen sowie einzelnen Schülerinnen und Schülern durch. Teilweise bin ich auch im Unterricht an anderen Schulen in der Umgebung tätig, was ich als willkommene Abwechslung empfinde. Zu einer meiner weiteren Aufgaben gehört – in Zusammenarbeit mit den Fachberaterinnen – die Betreuung der Prüfungen zum Deutschen Sprachdiplom Stufe 1 und 2 an den Schulen im Großraum Chongqing. Viele Schülerinnen und Schüler, welche das DSD 2 absolvieren und damit eine deutsche Hochschulzugangsberechtigung erhalten, möchten im Anschluss in Deutschland studieren. Es macht mir viel Freude, die Menschen bei diesem wichtigen Schritt in ihrem Leben zu unterstützen!

2020 in China – Das Jahr der Pandemie

Kein Bericht aus dem Jahr 2020 kann ohne einen Blick auf das Thema "Corona" auskommen. Der gesellschaftliche Diskurs diesbezüglich ist aktuell noch voller ungeklärter Fragen, auf welche die Wissenschaft hoffentlich bald fundierte Antworten liefern kann. Ich verbrachte die Zeit unmittelbar nach dem Ausbruch in China und kann bestätigen, dass die chinesischen Behörden sofort nach Bekanntwerden der ersten Infektionen mit effektiven, koordinierten Maßnahmen reagierten und so schon nach etwa vier Wochen mit sehr drastischen Kontaktbeschränkungen ein weitgehend normaler Alltag wieder möglich war. Dies ist sicher ein Extrembeispiel, was der Auslandslehrkraft an Unerwartetem widerfahren kann. Aber es soll auch zeigen, dass man nie alleine ist, modernen Kommunikationsmitteln sei Dank: Meine Schule hier vor Ort stand in ständigem Kontakt mit mir in der "Quarantänezeit" und auch die Verbindung zur ZfA in Deutschland war immer gewährleistet.

Abschlussgedanken

Wer reist, der lernt, dies ist hinlänglich bekannt. Lebenslanges Lernen ist in unserer sich schnell wandelnden Gesellschaft unabdingbar und wir als Lehrerinnen und Lehrer sind die Botschafter, die dies durch eigenes Handeln vermitteln sollten. Vielleicht wurde vielen im Jahr 2020 bewusst, wie wertvoll die als selbstverständlich angesehene Reisefreiheit, der Austausch zwischen Ländern und Kulturen, für eine friedliche, prosperierende Welt sind. Welch bessere Gelegenheit, sich für diese Werte einzusetzen, gibt es, als einige Zeit als Lehrerin oder Lehrer im Ausland zu verbringen? Der Gewinn ist dreifach: für einen selbst, für die Schüler im Gastland und die Schüler, die man nach der Rückkehr unterrichten wird. Denn man wird mit ziemlicher Sicherheit zu einem besseren Lehrer gereift sein.

Tobias Amon

Tobias Amon unterrichtet seit dem Jahr 2019 als Landesprogrammlehrkraft Deutsch als Fremdsprache an der Jihua Middleschool Chongqing.

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Stand 16.12.2020