Als deutscher Geschichtslehrer in Polen - Aufgabe und Verpflichtung

Aufgewachsen in der alten Bundesrepublik, Studium der Fächer Französisch, Geschichte und Wirtschaft/Politik in Kiel, ein Jahr Deutschassistent in Dijon/Frankreich, 16 Jahre Unterrichtstätigkeit an einem Gymnasium bei Hamburg, 8 Jahre als Auslandsdienstlehrkraft (ADLK) in London - und dann nach 4 Jahren an einem Kieler Gymnasium bei der zweiten Bewerbung für den Auslandsschuldienst das Angebot aus Warschau!!?

Bisher war ich sehr vertraut mit Westeuropa- quasi westlich sozialisiert - und jetzt eröffnete sich die großartige Chance, in unserem östlichen Nachbarland zu leben und an der Willy-Brandt-Schule Warschau (Begegnungsschule) zu arbeiten. 

Neben den vielen wunderbaren neuen Eindrücken aller Art (Landschaften, Städte, Sehenswürdigkeiten, Küche, kulturelle Besonderheiten u.v.m.) und bereichernden menschlichen Begegnungen war mir von Anfang an klar, dass mir als Geschichtslehrer hier eine besondere Aufgabe und Verantwortung zufallen würde, die ich gerne annahm.

Gesprächsrunden und Begegnungen mit Zeitzeugen

Die hohe Bedeutung des Faches Geschichte an diesem Ort wurde mir bereits in meinem alltäglichen Unterricht immer wieder bewusst, wenn wir das 19. und 20. Jahrhundert mit den vielen historischen Belastungen des deutsch-polnischen Verhältnisses, aber auch die Chancen seit 1991 behandelten.

Besonders eindrücklich waren die Gesprächsrunden in den höheren Klassen, bei denen jede Schülerin und jeder Schüler auf freiwilliger Basis erzählte, wie die jeweiligen Familienangehörigen durch die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg gekommen waren. Geschichte wurde so sehr unmittelbar und persönlich. Ganz unterschiedliche Perspektiven von deutscher und polnischer Seite kamen zur Sprache. Jedem Schüler und jeder Schülerin wurde klar, was für ein Glück die Überlebenden hatten und dass dadurch ihre eigene Existenz ja überhaupt erst möglich war. Diese Stunden haben uns allen den besonderen Wert unserer Begegnungsschule und der Klassenkameradschaft über Nationen hinweg vor Augen geführt!

Unvergessliche Stunden waren ebenfalls die Begegnungen mit vielen Zeitzeugen, die in bewegender Weise über ihre Erfahrungen im Konzentrationslager und in der Kriegszeit berichteten. Hier möchte ich Herrn Albin nennen, der einer der ersten Häftlinge des KZ Auschwitz war und dem es auf abenteuerliche Art und Weise 1943 gelang zu fliehen und den Widerstand fortzusetzen. Einen tiefen Eindruck hinterließ auch Frau Szpilman, die Ehefrau des "Pianisten", die unsere Schülerinnen und Schüler durch ihre hochinteressanten Erinnerungen und ihre zugewandte freundliche Art in den Bann zog.

Tagungen, Konferenzen und internationale Projektarbeit 

Die Einzigartigkeit unserer Schule und das Interesse an uns wurden bei mehreren Tagungen und Konferenzen deutlich. Als Teilnehmer bei der internationalen Konferenz zur Geschichtspolitik in Polen im Willy-Brandt-Zentrum der Universität Breslau/Wrocław durfte ich spezifische Aspekte unseres schulinternen Geschichtscurriculums vorstellen. Bei einer Tagung in Kreisau/Krzyżowa ging es um Informationen zu Gedenkstätten, um Erinnerungskultur und um die Einbettung dieser Punkte in den Unterricht.

Die gute Zusammenarbeit zwischen der polnischen Historia-Abteilung und dem deutschen Geschichtszweig an unserer Schule konnten meine polnische Kollegin und ich bei einem gemeinsamen Vortrag im Rahmen einer Tagung für polnische Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer in Warschau demonstrieren. 

Ein großer Vorzug des Auslandsschulwesens ist in meinen Augen die Möglichkeit, an größeren und anspruchsvollen Projekten teilzunehmen, die alle einen internationalen und interkulturellen Anspruch haben. So arbeitet die Fachschaft Geschichte schon seit über zwei Jahren in einem Projekt der Goerdeler-Stiftung zum Thema "Widerstand" mit.

Aktuell wirken wir mit einer Geschichtsgruppe der Schule an einem deutsch-polnisch-ukrainischen Projekt mit dem Namen "Mauern zum Sprechen bringen" mit, wobei wir mithilfe eines professionellen Fotografen und eines Historikers aus Breslau/Wrocław die Geschichte des Stadtteils Muranów (ehemaliges Ghettogebiet) beleuchten. 

"Deutsch-französisch-polnische Freundschaft"

Gleich zu Beginn meines Berichts hatte ich ja bereits gesagt, wie sehr ich zunächst durch Westdeutschland und Westeuropa geprägt war. Ein großer Ansporn für meine Berufs- und Fächerwahl war und ist der europäische Gedanke und die deutsch-französische Freundschaft.

Nach der politischen Wende von 1989/90 war ich von der Konzeption des Weimarer Dreiecks begeistert und habe mich bei meiner Tätigkeit hier in Warschau bemüht, meine bisherigen Erfahrungen im deutsch-französischen Kontext in den deutsch-polnischen Dialog einfließen zu lassen.

Diese Dreiecksidee konnte ich im Rahmen des Französisch- und Geschichtsunterrichts durch Kontakte mit dem hiesigen Lycée verfolgen. Mehrere Begegnungen wurden organisiert und wir arbeiteten sogar gemeinsam an einem größeren Projekt "Polen aus Wahl", bei dem es um den bedeutenden kulturellen Einfluss vieler deutscher Familien ging, die im 19. Jahrhundert oder schon früher nach Warschau gekommen waren. Auch bei dem bereits genannten Widerstandsprojekt stehen in der zweiten Phase deutsch-französisch-polnische Themen im Vordergrund.

Eine sehr bereichernde Erfahrung

Um der geschichtlichen Dimension an diesem Standort gerecht zu werden und um das Wissen und das Verständnis für die jeweilige Nationalgeschichte zu vertiefen, führt unsere Schule beim deutschen und polnischen Nationalfeiertag eine besondere Veranstaltung durch. Auch der Auschwitz-Gedenktag wird jährlich in würdiger Form begangen. Darüber hinaus berücksichtigen wir natürlich die zahlreichen Jahrestage im historischen Kontext. Aktuell geht es um den 50. Jahrestag des Staatsbesuchs unseres Namenspatrons Willy Brandt in Warschau mit dem berühmten Kniefall.

Bei vielen Klassenfahrten und privaten Reisen in alle Regionen Polens hatten wir die einmalige Gelegenheit, Land und Leute kennenzulernen. Außerdem bot sich mir die Gelegenheit, vor Ort in der Geburtsstadt meines Vaters in Stolp/Słupsk Familiengeschichte zu betreiben.

Insgesamt kann ich mit Befriedigung feststellen, dass diese acht Jahre in Polen für meine Frau und mich privat und fachlich eine sehr bereichernde Erfahrung waren. Wir sind dankbar für die vielen Jahre, die wir im Auslandsschuldienst verbringen durften.

Norbert Stüwe

Norbert Stüwe unterrichtet seit dem Jahr 2013 als Auslandsdienstlehrkraft an der Willy-Brandt-Schule in Warschau. Er ist unter anderem Fachleiter für Geschichte, Gemeinschaftskunde und Französisch. Außerdem verantwortet er die Koordination der Studien- und Berufsberatung.

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Stand 26.04.2021